Völlig losgelöst von der Basis. Wissenschaftlicher Anspruch der ZfgG wankt – „Subversiver Widerstand“ Raiffeisens gegen eG-Rechtsform

Völlig losgelöst und abgehoben. Teil 1:  Unsere Politik und unsere Parteien  entfernen  sich immer mehr von der Realität. Aber fehlgeleitete Politik lässt sich durch Wahlen korrigieren, manchmal.
Die Beseitigung der Flur- und Folgeschäden dauert dagegen etwas  länger und beschäftigt die nächsten Generationen.  Adenauer hat, aus Angst vor „dem Russen“  und aus Pragmatismus große Teile der Nazigesetzgebung und der Nazistrukturen akzeptiert und somit legalisiert. Diese gelten bis heute.

Später führte  eine missratene Familienpolitik  zu blühenden,  aber menschenleeren Landschaften.  Parallel  wurde die genannte Dienstleistungsgesellschaft propagiert und der Neoliberalismus  machte aus Putzfrauen und Putzmänner selbstständige Unternehmer. Auch die viel gepriesene „soziale Marktwirtschaft“  wurde von der Basis gar nicht  verstanden und zuletzt damit verwechselt , dass es bei ALDI  Räucherlachs für Alle gab und immer noch gibt.

Völlig losgelöst Teil 2. Auch unsere  Selbstverwaltungsorganisationen haben sich komplett verselbstständigt,  vom Bürger entfernt und ein Eigenleben entwickelt. Selbstverwaltungsorganisationen haben den staatlichen Auftrag sich selbst zu verwalten.  Inzwischen mutieren diese Verbände zu „Versorgungsinstitutionen“. Sie stellen  „Unterbringungsplätze“, gemeint sind gut bezahlte Jobs für Politiker ohne Mandat, also Versorgungsfälle aus Politik und Verwaltung.  Selbstbedienung und  „Bonzokratie“ haben  sich nun mal bewährt.

Ein besonders peinliches Beispiel  für die Bonzokratie und die Volksverdummung liefert unsere Genossenschaftsorganisation – ein Beleg für den „real existierenden Sozialismus auf Deutschen Boden“ mit eigener Jubelpresse und allem was dazugehört.

Völlig losgelöst Teil 3: Die „Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen“ (ZfgG,  das Zentralorgan der Genossenschaftswissenschaft), erhebt den Anspruch eine wissenschaftliche Publikation zu sein. Erhebliche Zweifel daran sät der Genossenschaftsexperte Wilhelm Kaltenborn und bringt in der jüngsten Ausgabe des quartalsweise erscheinenden Printmediums „GenoSplitter“ gewichtige Gründe vor. So habe das August-Heft, in dessen Mittelpunkt der Genossenschaftspionier Friedrich Wilhelm Raiffeisen wegen seines diesjährigen 200sten Geburtsjubiläums gestanden hat, diesen als „geistigen Vater der Genossenschaftsidee“ bezeichnet und gewürdigt. Desweiteren sei weiterhin zu lesen: „Aus dieser Idee entstand schlussendlich die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft“.

Nicht nur nach der Meinung von Kaltenborn ist das Unsinn, der unter die Leute gebracht wird. Um das zu belegen, brachte er schwer zu widerlegende Gegenargumente vor: „Die Rechtsform entstand ganz und gar ohne das Zutun Raiffeisens. Als sie im preußischen Landtag 1866 auf die Initiative Schulze-Delitzschs hin geschaffen wurde (und das Gesetz im Folgejahr in Kraft trat), kannte man außerhalb des Westerwaldes den Namen Raiffeisen noch nicht. Dieser hatte die Rechtsform auch nicht vermisst. Er hat sogar in einem wichtigen Punkt sehr listig subversiven Widerstand bei der Umsetzung geleistet. Denn Raiffeisen war entschieden gegen die Einführung von Geschäftsanteilen. Für Schulze aber war die Bildung von Geschäftsanteilen als Merkmal der Selbsthilfe von entscheidender Bedeutung. Er sorgte also, in seiner überlegenen Position als Jurist und prominenter Reichstagsabgeordneter bestens vernetzt, für die Akzeptanz dieser Vorschrift auch durch Raiffeisen.

Dieser fand aber – wahrscheinlich dank guter Berater – noch einmal einen bemerkenswerten Ausweg: Seine Vereine sollten durchaus in ihre Satzung die Bildung von Geschäftsanteilen aufnehmen, aber ihre Höhe mit „Null“ festlegen. Aber schließlich verbaute ihm Schulze auch diesen Ausweg.“

Was die geistige Vaterschaft Raiffeisens für die Genossenschaftsidee betrifft, wird nach Auffassung von Kaltenborn die gesamte Menschheitsgeschichte von genossenschaftlichen Prinzipien begleitet. Außerdem habe es auch schon in der Industrialisierungsphase vor dem Wirken Raiffeisens Genossenschaften gegeben. Genannt werden neben den „Redlichen Pionieren“ von Rochdale zahlreiche andere in der preußischen Rheinprovinz, im Herzogtum Nassau und im heutigen Saarland. Im Hunsrück existierten Mühlengenossenschaften und gemeinschaftlich betriebene Backhäuser. „Die Genossenschaftsidee, von der die ZfgG-Redaktion behauptet, Raiffeisen sei ihr geistiger Vater gewesen, war in seiner Nachbarschaft also schon zu seiner Zeit  als Baby sehr modern umgesetzt“, hält Kaltenborn entgegen und setzt seiner Generalkritik noch eine besondere Krone auf.

Wenn die Wissenschaft vergesse, einst angetreten zu sein, die Welt zu erhellen, ihre Konturen sichtbar zu machen und herrschende Meinungen zu hinterfragen, dann werde es ärgerlich. Im genossenschaftlichen Bereich fange das bei der Rechtswissenschaft an, soweit sie die Mär der Verbände übernimmt, wonach die Einführung der Zwangsmitgliedschaft 1934 von einem frei bestimmten Genossenschaftswesen in Konsequenz der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise gewünscht worden sei. ++ (wt/mgn/29.10.18 – 211)
www.genonachrichten.de, e-mail: mg@genonachrichten.de, Redaktion: Matthias Günkel (mgn), tel. 0176 / 26 00 60 27

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3 Kommentare.

  • […] Abschlussfrage lautet: Könnte ein im Jahr 2018 wiederkehrender Raiffeisen mit ungeteilter Genugtung auf sein Werk blicken… ? Sicherlich nicht, denn er würde wohl auch in den heutigen Raiffeisenorganisationen unendlich […]

  • […] Eine Ausnahme unter den vielfältigen Bemühungen seitens der Genossenschaftswissenschaft, die dem vorstehend skizzierten Anspruchsniveau genügt, stellt das von Boettcher bereits im Jahr 1979 entwickelte und den Vorständen von Genossenschaften auch von anderen Autoren unzählige Male zur Einführung empfohlene Konzept dar. Bedauerlicherweise wurde dessen Vorschlag einer Operationalisierung des Förderungsauftrags in Genossenschaften mittels Förderplan und Förderbericht  in der Praxis kaum beachtet. Nur in wenigen Genossenschaften kam das Konzept zur Anwendung. Ansonsten wurde weiterhin an der verbreiteten Überzeugung festgehalten, es bestünde keine brauchba… […]

  • Georg Scheumann
    30. Oktober 2018 10:53

    Ein treffender Kommentar. Und auch Wilhelm Kaltenborn hat in akribischer Recherchearbeit vieles widerlegt und das Denkmal Friedrich Wilhelm Raiffeisen auf ein normales Maß abgesenkt, ohne dessen Verdienste wesentlich zu schmälern. Man kann ihm dazu Hochachtung zollen.
    Keine Hochachtung kann man der Mär der Verbände entgegenbringen, heute noch im Sinne von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und der genossenschaftlichen Idee tätig zu sein. Denn diese Verbände waren es, die das ihnen von Führer und Reichskanzler Adolf Hitler im Nationalsozialismus verliehene und heute noch gültige Prüfungsmonopol, noch immer nach dem damaligen Motto „Einer befiehlt und Alle müssen folgen“ dazu missbraucht haben, die Zahl der Volks- und Raiffeisenbanken von 1970 bis heute um fast 90% zu reduzieren.

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