Genossenschaftssoziologie. Chemnitz, 28. April 2017 (geno). Der Begriff „Genosse“ ist geschlechtsneutral und bedarf keiner feminisierten Alternative. Diese etwas lockere Feststellung traf Prof. Jürgen Keßler von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTK) am Freitag gegen Ende eines Symposiums an der Chemnitzer Technischen Universität (TU), in dessen Mittelpunkt die Partizipation in Genossenschaften stand. Einleitend hatte der Berliner Hochschullehrer und Jurist generelle Aussagen zum Genossenschaftswesen getroffen. Offenbar noch unter dem Eindruck eines gerade absolvierten Besuchs in Argentinien stehend erläuterte er zunächst, welche substantiellen Unterschiede das in Südamerika herrschende, romanisch geprägte Genossenschaftsverständnis zu dem deutschen, von Gesetzen eingezwängte Genossenschaftsdenken aufweist. Über den Genossenschaften romanischer Länder wehe ein sozialer Geist und Naturalleistungen hätten Vorrang, während die Genossen in Deutschland sich mühen müssten, damit die Gewinnererzielungsabsicht nicht die Oberhand gewinnt. Dabei helfe die Entscheidung der UNESCO, die etwas philosophisch erhöhte Genossenschaftsidee als ersten deutschen Vorschlag in das Register des immateriellen Weltkulturerbes aufzunehmen. In aller Ausführlichkeit widmete sich Keßler dann der jüngsten Novelle des deutschen Genossenschaftsgesetzes, die gegenwärtig im Bundesrat zur Entscheidung liegt und nach seiner Auffassung doch noch vor Ablauf dieser Legislaturperiode in Kraft gesetzt wird. Einen großen Wurf erwarte er ohnehin nicht.
Bemerkenswertes berichtete Walter Vogt von der Industriegewerkschaft (IG) Metall, der das erfolgreiche Wirken einer Belegschaftsgenossenschaft innerhalb des VW-Konzerns im Werk Emden erläuterte. Diese rund 300köpfige Genossenschaft hat über den Betriebsrat das Kunststück fertiggebracht, in Absprache und mit Einverständnis der Unternehmensführung regenerativ Strom auf einem Werkhallendach zu produzieren und damit Tausende Haushalte zu versorgen. Ihm selbst seien auf dem Sektor Energie zehn derartige Belegschaftsgenossenschaften bekannt. Insgesamt gebe es in Deutschland etwa 20. Statistik werde darüber nicht geführt.
Besonderes Lob für den universitären Impuls zugunsten der Genossenschaftssoziologie aus Chemnitz äußerten Vertreter der Initiative „Genossenschaft von unten“. Helga Conrad schilderte haarsträubende Zustände aus der Szene der Berliner Wohnungbaugenossenschaften. Elementare Verstöße gegen die genossenschaftliche Demokratie und gegen das Prinzip der Selbstverwaltung seien an der Tagesordnung. Seit 17 Jahren erlebe sie, wie die Einflussnahme der Genossenschaftsmitglieder auf Entscheidungen von Vorständen und Aufsichtsräten beschnitten oder ganz blockiert wird.
Grundlage der Diskussion war eine Untersuchung der Bereiche Organisation und Arbeitswissenschaften der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Chemnitz, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. ++ (gs/mgn/28.04.17 – 85)
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