Berlin, 4. Juni 2018 (geno). Was haben die Genossenschaften in Deutschland davon ? Das fragt der Vorstandssprecher der Zentralkonsum eG, Martin Bergner, mit einem Zwischenruf in der aktuellen Ausgabe des ostdeutschen Unternehmermasgazins „Wirtschaft + Markt“ bezogen auf die an den Mittelstand adressierten Bürokratieabbaugesetze I und II sowie des dritten angekündigten. Selten sei überhaupt im politischen Alltag die Rede von Genossenschaften. Zwar habe es für kleine Genossenschaften gewisse und scheinbare Erleichterungen in puncto einer jährlichen „Pflichtprüfung“ gegeben, jedoch profitieren davon in erster Linie die Genossenschaftsverbände. Sie könnten sich nun auf die großen lukrativen Genossenschaften konzentrieren und müßten nicht mehr so viel Personal für die Prüfung kleiner Genossenschaften vorhalten. Ähnlich verhalte es sich bei den neuen Regelungen zur Kündigungsfrist. Die Genossenschaftsverbände konnten eine für sie ungünstige Regelung – nach eigenem Bekunden – nicht nur „erfolgreich“ verhindern, sondern es wurde sogar eine noch schärfere Vorschrift eingeführt.
Bergner weist zudem darauf hin, dass an den zweifelhaften Grundfesten rund um die „Pflichtprüfung“ überhaupt nicht gerührt worden ist. In dem vom Genossenschaftspionier Hermann Schulze-Delitzsch 1867 initiierten Gesetz gab es überhaupt keine Pflichtprüfungsvorschrift. Sie habe auch nicht seinen Vorstellungen entsprochen. Im Gegenteil – das Gesetz sollte nach der Intention von Schulze-Delitzsch die Genossenschaften vor staatlichen Eingriffen schützen. Außerdem war die Mitgliedschaft in Verbänden freiwillig und nicht – wie heute – Pflicht. Sie hat wiederum eine traurige, wenn nicht skandalöse Tradition. Die Pflicht- oder besser Zwangsmitgliedschaft ist nämlich eine Idee der Nationalsozialisten, deren Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland eigentlich gar nichts zu suchen hat. Bergner beschreibt diesen eigentlich untragbaren Zustand so: „Im Jahr 1934 wurde der Paragraf 54 ‚Die Genossenschaft muss einem Verband angehören, dem das Prüfungsrecht verliehen ist (Prüfungsverband)‘ in das Gesetz aufgenommen. Das Gesetz wurde am 30. Oktober 1934 verkündet und hatte auf Grund des nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetzes vom März 1933 keinerlei parlamentarische Beratung mehr erfahren und galt so mit den Unterschriften Hitlers und seines Justizministers als ausreichend legitimiert. Damit war der Anschlusszwang – so lautete die Formulierung in der Begründung des Gesetzes – für die Genossenschaften beschlossen. Vom Anschluss-Zwang sprachen auch die Verbände noch in der 50er-Jahren, erst dann wichen sie auf den Euphemismus von der Pflichtmitgliedschaft aus. Der Anschlusszwang gilt noch heute und wird insbesondere von den Verbänden vehement verteidigt.“ Das aktuelle Genossenschaftsgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist also mit einer juristischen Nazi-Erbschaft belastet. Das ist nicht hinnehmbar. ++ (kg/mgn/040618 – 108)
Ergänzung der Redaktion zur Nazi-Erbschaft. Durch die spezifischen Entwicklungen im Faschismus und in den Nachkriegsjahren wurde in Deutschland der sozialistische und sozialreformerische Ansatz, der die Genossenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts prägte, weitgehend zurückgedrängt. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Genossenschaften als demokratische Strukturen systematisch bekämpft und der Großteil bis Anfang der 1940er Jahre aufgelöst (Brendel 2011). Genossenschaften als demokratische Alternativen, die von den Mitgliedern demokratisch gesteuert werden, waren nicht mit dem Führerprinzip vereinbar. Die kapitalorientierten Genossenschaften im Kredit- und Wohnungsbereich wurden dem Führerprinzip unterstellt – verloren aber damit ihren Kern genossenschaftlicher Wirtschaftskultur – und wurden zum Zusammenschluss in großen Einheiten gezwungen, was mit einem Verlust der Mitgliederidentifikation einherging. ( aktuelles Beispiel: Fusionspoltik der Geno-Banken)
Deutschlands Genossenschaftswesen hat sich von diesem Identitätsverlust in der Nachkriegszeit und den folgenden Jahrzehnten nur schwer erholt. Hierzu trug auch die besondere Entwicklung im Osten Deutschlands bei, in dem staatskollektivistische Genossenschaften kaum Bezüge zur demokratischen Genossenschaftskultur erkennen ließen. Gerade in der Phase der Wende hätten genossenschaftliche Lösungen für zahlreiche DDR-Betriebe eine Alternative zur Schließung oder zur Übernahme durch Investoren dargestellt, doch sowohl die mächtigen Kapitalinteressen als auch die Hoffnungen der Bevölkerung nach den Erfahrungen der Mangelwirtschaft ließen diese Lösungen nicht zu. Das falsche Verständnis, das mangelnde öffentliche Interesse und das fehlende historische Gedächtnis waren sowohl Folgen als auch Ursachen einer marginalen Position der Genossenschaften in der deutschen Unternehmenslandschaft.
Auszug aus: Genossenschaften und Zivilgesellschaft: Historische Dynamiken und zukunftsfähige Potenziale einer öko-sozialen Transformation
Prof. Dr. Susanne Elsen ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Sozialwissenschaften an der Freien Universität Bozen. Sie vertritt seit vielen Jahren in Lehre, Forschung und Entwicklung den Bereich der Ökonomie des Gemeinwesens und der ökosozialen Entwicklung städtischer und ländlicher Räume und ist im europäischen und außereuropäischen Raum tätig.
Dr. Heike Walk ist Geschäftsführerin des Forschungszentrums für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin. Sie ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Dozentin an der Technischen Universität Berlin und an der Freien Universität Berlin. Seit 2003 ist Frau Dr. Walk Mitherausgeberin der Buchreihe „Bürgergesellschaft und Demokratie“ im Verlag Springer
www.genonachrichten.de www.genossenschaftsnachrichten.de, e-mail: mg@genonachrichten.de, Redaktion: Matthias Günkel (mgn), tel. 0176 / 26 00 60 27