Schwelendes Demokratie-Dilemma: Generalversammlung – Genossenschaftsrat – Vertreterversammlung

Hamburg/Bremerhaven, 7. Februar 2025 (geno). Das heutige Genossenschaftsrecht sieht vor, dass Genossenschaften mit mehr als 1.500 Mitgliedern statt einer Generalversammlung, bei der sämtliche Mitglieder zugelassen sind, eine Vertreterversammlung einberufen zu können. Diese Möglichkeit gibt es erst durch die Novelle des Gesetzes vom Juli 1922, denn das zum 1. Oktober 1889 in Kraft getretene Genossenschaftsgesetz schloss diese Variante eines Repräsentativorgans ein Vertretungsverfahren kategorisch aus. Das schreibt der Historiker und Archivar Hartmut Bickelmann in einem Fachbeitrag. Der entscheidende Impuls, doch solche „repräsentativen Zusammenkünfte“ zu organisieren, kam aus Hamburg, wo die Sozialdemokratie gravierenden Einfluss ausübte. Grund war das rasante Wachstum der Konsumgenossenschaften und der Aufstieg der Arbeiterbewegung. Beispielsweise fanden sich keine Versammlungsräume, um Mitgliedertreffen mit Tausenden Teilnehmern zu veranstalten. So wurde Norddeutschland, insbesondere Bremerhaven, zur Speerspitze pro Vertreterversammlungen. Der Konsumverein „Unterweser“ war der erste, der solche repräsentativen Mitgliederversammlungen praktizierte. Dessen Geschäftsführer Ferdinand Vieth war maßgeblicher Protagonist. Er hatte im Jahr 1907 das Konzept des Bezirkskonsumvereins entworfen. So entstand der von Vieth konzipierte Genossenschaftsrat. Er wurde als Zwischenorgan zwischen Vorstand, Aufsichtssrat, Generalversammlung und Mitgliedern eingeführt. Vieth sorgte dafür, dass jede politische Gemeinde einen Wahlbezirk der Genossenschaft bildete. Auf diesem Weg übernahm der Genossenschaftsrat eine Reihe von Aufgaben, die zuvor der Generalversammlung oblagen. So wandelte sich per Gesetzesnovelle durch Einfügen des § 43a für Genossenschaften mit mehr als 10.000 Mitgliedern die Vertreterversammlung als Generalversammlung obligatorisch. Schon ab 1923 fanden dann solche Vertreterversammlungen statt. In den Nachfolgejahren wurden die Teilehmergrenzen weiter abgesenkt: nämlich auf 3.000 bzw. 1.500 Mitglieder. Inzwischen gibt es eine gegenläufige Tendenz und es werden wieder Generalversammlungen mitgliederstarker Genossenschaften durchgeführt. „Welcher Weg – Generalversammlung oder Vertreterversammlung – letztlich zu mehr Demokratie in der Konsumgenossenschaftsbewegung geführt hat, lässt sich schwer beurteilen, denn in der Praxis kommt es auf freie Handhabung an und die beschriebenen Zwischenorgane wie Mitgliederausschuss und Genossenschaftsrat boten erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten, auch nach Einführung der Vertreterversammlung,“ erklärt Bickelmann.

Das Demokratie-Dilemma der modernen, mit dem Industriezeitalter gewachsenen Genossenschaften geht offenbar weiter. Lösungswege bieten die altrechtlichen Genossenschaften der vorindustriellen Zeit, die – bewusst oder unbewusst – kaum jemand kennt, deren Rechtsgrundlagen jedoch vom Grundgesetz volle Anerkennung genießen. ++ (dd/mgn/07.02.25 – 021)

www.genonachrichten.de, e-mail: mg@genonachrichten.de, Redaktion: Matthias Günkel (mgn), tel. 0176 / 26 00 60 27

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