Angesichts der Bedeutung des Genossenschaftswesens in Deutschland verwundert es, dass sich die Zahl der Publikationen zu diesem Thema in Grenzen hält. Zumeist handelt es sich um Aufsätze in Fachzeitschriften, selten dagegen um Grundlagenwerke, die das Genossenschaftswesen in der Vielfalt seiner Eigenheiten und Möglichkeiten einem großen Kreis von Lesern zugänglich machen. In Heft 7/2020 der „Wismarer Diskussionspapiere“ behandelt der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Günther Ringle, emeritierter Professor für Betriebswirtschaftslehre und langjähriger Leiter des Arbeitsbereichs Genossenschaftswesen an der Universität Hamburg auf 36 Seiten das Thema „Perspektiven des genossenschaftlichen Kooperationsmodells“.
Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist die aktuelle Statistik, die mehr für eine nachhaltige Verankerung des Genossenschaftswesens in der deutschen Wirtschaft als für eine gefährdete Zukunft spricht. Dagegen stehen immer wieder laut werdende Stimmen von Kritikern, die Genossenschaften für ein „Auslaufmodell“ halten. Es werden signifikante Schwächen und Stärken des Genossenschaftsmodells dargelegt. Der Analyse liegen die in Deutschland am häufigsten vorkommenden Wirtschaftsgenossenschaften zugrunde, denen anders als Sozial- und Kulturgenossenschaften aufgetragen ist, primär die ökonomischen Belange ihrer Mitglieder zu fördern. Gerade kleinere ländliche und gewerbliche Betriebe, die nicht die Größe haben, wirtschaftliche Vorteile durch Marktmacht zu erringen, suchen Kooperationen, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu verbessern, Kosten zu senken und ihren Ertrag zu steigern. Aber auch Privatpersonen profitieren über Bank-, Konsum- oder Wohnungsgenossenschaften von der genossenschaftlichen Mitgliederförderung (S. 8 f). Sieht man sich die Statistik an, so sinkt seit einigen Jahren die Zahl der Genossenschaftsunternehmen (S. 9). Ringle führt diesen Prozess auf die zahlreichen Bankenfusionen, ferner auf das Höfesterben zurück, wodurch die Zahl der ländlichen Genossenschaften reduziert wird. Dagegen ist die Zahl der gewerblichen Genossenschaften von 875 im Jahr 1980 auf 2.958 im Jahr 2019 gestiegen, was einen deutlichen Anstieg bedeutet. Hier ist ein Bedeutungsverlust also nicht erkennbar (S. 9 f.).
Als problematisch sieht Ringle, dass das genossenschaftliche Geschäftsmodell in einigen Bereichen an Kontur verliert. Das ist vor allem der Fall, wenn Genosssenschaften bestimmter Sparten in starkem Umfang das Nichtmitgliedergeschäft betreiben, was die genossenschaftliche Mitgliedschaft und die Mitgliederförderung verwässert (S. 11 f). Damit werden Genossenschaften zunehmend wie erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen geführt, unter Schwächung der genossenschaftlichen Selbstverwaltung, Verlust an Genossenschaftsbewusstsein und Loyalität der Mitglieder in den Geschäftsbeziehungen zur Genossenschaft. Im Vordergrund steht dann nicht der von den Mitgliedern erhoffte Nutzen und es stellt sich Entfremdung ein. In der Folge fehlt der Öffentlichkeit ein klares Bild davon, was eine Genossenschaft ausmacht und dazu motivieren kann, Mitglied zu werden und sich mit Kapital zu beteiligen (S. 12). Mit dieser Analyse wird der Finger in eine Wunde gelegt, die nicht wegzudiskutieren ist.
Für abträglich für die Genossenschaftsidee wird sodann befunden, dass in der betriebswirtschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Standardliteratur Genossenschaften und förderwirtschaftliche Kooperationsmodelle eher stiefmütterlich behandelt und in der Presse falsch zugeordnet werden. Als Beispiele dienen der EDEKA-Verbund oder die Rewe-Group, die in den Medien in einem Atemzug mit Handelsketten als Handelskonzerne bezeichnet werden, obwohl es sich um genossenschaftliche Verbünde handelt (S. 14). Zudem wissen auch Mitglieder oft nicht genau, welche Rechte sie haben oder was die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft bedeutet.
Diese Probleme sieht Ringle als überwindbar an, würden Vielfalt und Bedeutung des Genossenschaftskonzeptes wieder stärker herausgestellt (S. 15 ff.): Nämlich die Vielzahl der Wirtschaftszweige, in denen Kooperationen möglich und nötig sind, die Zahl möglicher Beteiligter in einer Genossenschaft, die Bindungskraft unter den Mitgliedern bzw. Mitgliedsunternehmen, die Chancen der demokratischen Selbstverwaltung und die große Insolvenzresistenz der Unternehmensform. Bereits seit 2000 gibt es eine steigende Zahl von Neugründungen von Genossenschaften, was teilweise eine Folge des novellierten Genossenschaftsgesetzes von 2006 ist, in dem die Mitgliederzahl auf drei gesenkt wurde und seither soziale und kulturelle Hauptzwecke möglich sind (S. 17). Es entstanden neue Genossenschaftsarten in den Bereichen ökologische Landwirtschaft und alternative Energieerzeugung oder neue Medien, Touristik, Gesundheitswesen und Betreuung, Umweltschutz oder Dorfläden, nur um einige zu nennen. Diese Genossenschaften gleichen zwar die durch Fusionen verschwundenen Banken nicht aus, zeigen aber, dass die Genossenschaft keineswegs ein überholte Rechtsform ist (S.19).
Im 4. Kapitel (S. 22 ff.) wagt Ringle den Blick voraus, um die Zukunftsfähigkeit von Genossenschaften einzuschätzen. Hier kommen Sätze vor wie „Zukunftsfähigkeit der genossenschaftlichen Kooperationsform ist aus der Praxis heraus zu entwickeln“
(S. 22) oder „Genossenschaftliches Handeln bedarf einer Bewahrung als wesentlich zu erachtender Elemente“ (S. 23). Er schlägt eine klarere Konturenbildung hinsichtlich der Märkte (S. 24), eine bessere interne Kommunikation in der Zusammenarbeit, der Bedarfsbesprechung des Leistungsangebots (S. 24 f.) vor, Anreize zu stärkerer Mitgliederbindung sowie die Akquisition von Neumitgliedern aus dem Kreis der Nichtmitglieder-Kunden (S. 26 f). Ebenso eine Förderung von Neugründungen (S. 28), eine Gesamtstrategie (S. 28 f.) und Anpassung an den digitalen Wandel (S. 29).
Dieses Kapitel ließe sich durch eine weiterführende Analyse erweitern, die sich damit befasst: Welche Genossenschaften sind zukunftsfähig und was machen sie anders als andere Genossenschaften? Welche Genossenschaften haben Vorbildcharakter? Welche Genossenschaften haben sich in den vergangenen Jahren transformiert oder transformieren müssen – und wie? Gibt es neugegründete Genossenschaften, die vieles anders machen und die Genossenschaftsidee neu gedacht haben? Freilich war die Suche nach „Leuchttürmen“ der Genossenschaftspraxis und deren Untersuchung nicht die Intention des hier besprochenen Aufsatzes. Der Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Genossenschaften aber die Bedeutung zu geben, die ihr zukommt, sollte weiteren Untersuchungen vorbehalten sein, die aufzeigen, dass die Genossenschaftsidee lebt (und da beziehe ich auch die Führungsebene der Genossenschaften mit ein) mit dem Blick darauf, was effektiv geschieht und noch zu tun ist, um Handlungen folgen zu lassen, möglicherweise auch Handlungen, die schmerzhaft für die Initiator sind.
Eine Neuausrichtung, die sich auch in einer stärkeren Unabhängigkeit von Verbänden und um ihre Pfründe bangende Gremien spiegeln könnte, in Gang zu setzen, wird Ängste auslösen, gerade, wenn sie mit wirtschaftlichen Nachteilen bzgl. Gehältern, Altersvorsorge, Pensionsansprüchen verbunden ist. Dass es auch anders gehen kann und zwar zum Wohle aller Mitglieder und inklusive der Vorstände, Aufsichtsräte und Verbände, wird durch Praxisbeispiele zu vermitteln sein. Erst wenn Mitglieder, Nichtmitglieder, Führungskräfte und Medien eine Idee von der Idee bekommen, hat die Genossenschaftsidee nicht nur eine Zukunft, sondern sogar eine strahlende Zukunft.
Autor: Dr. A. Neumann, igenos e.V.
Literatur:
Ringle, Günther; „Perspektiven des genossenschaftlichen Kooperationsmodells“, Wismarer Diskussionspapiere Heft 07/2020, Wismar.