Berlin/München, 16. Juni 2020 (geno). In einem halben Jahr jährt sich ein für Ostdeutschlands Genossenschaften immens wichtiges Jubiläum. Am 18. Dezember 1945 wurde von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) der Befehl Nr. 176 herausgegeben, die Konsumgenossenschaften wieder zuzuzulassen. Ein Musterstatut war als Anhang zum Befehl angefügt. Es sollte ein völlig neues Kapitel im Buch der deutschen Genossenschaften aufgeschlagen werden. Ob das wirklich geschah, stümperhaft oder gar nicht umgesetzt wurde, ist bis heute unbekannt.
Seltsamerweise hat sich die Genossenschaftsforschung damit offensichtlich nicht oder kaum befasst. Warum, darüber lässt sich trefflich streiten. Tatsachen zu dieser Art wissenschaftlicher Vernachlässigung fördern Historiker zutage. Dazu zählt Elke Scherstjanoi vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. In einem Aufsatz unter der Überschrift „Sowjetische Befehle der Besatzungszeit – eine kaum genutzte Quelle im Bundesarchiv“ stellt sie einführend fest: „27 Jahre ist es her, dass eine große Dokumentensammlung zur sowjetischen Besatzungspolitik in Deutschland (1945-1949), die Befehle der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), für die deutsche Forschung entdeckt wurden. Im Moskauer ‚Zentralen Staatsarchiv der Oktoberrevolution“, heute ‚Staatsarchiv der Russischen Föderation‘ (GARF), standen 1990 unerwartet 21 Bände mit über Tausend Originalbefehlen der SMAD (zonale Ebene) zur Verfügung. Wenig später wurden Befehle der unterstellten SMA der Länder und Provinzen der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) freigegeben.“ Zusätzlich sei der Zugang zu Serien von Befehlen zweier Geheimstufungsklassen ermöglicht worden. Insofern ist es mehr als überraschend, dass beispielsweise die Protagonisten der Genossenschaftswissenschaft freundliches Desinteresse hinsichtlich dieses enormen Forschungspotentials zeigten. Warum es ignoriert wird, kann seitens deutscher Genossenschaftsorganisationen keiner so recht erklären.
Einen gewissen Aufschluss über solche Abstinenz gibt ein kurzer Dialog zwischen Martin Sabrow, Inhaber der Professur für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, und Wladimir P. Tarassow, Direktor des Russischen Staatlichen Militärarchivs (RGVA). Auf die Frage von Sabrow, warum der Zugriff auf Archivgut in Russland schwierig oder unmöglich sei, reagierte der Russe klar und deutlich: Das sei ein Vorurteil deutscher Wissenschaftler. Auch in Russland gebe es Regeln für den Besuch von Archiven. Die einfachste sei, einen Antrag auf Einsicht zu stellen. Das werde oft verabsäumt und fälschlicherweise so interpretiert, dass der Zugang zu Dokumenten verwehrt würde. Dieser bemerkenswerte Gedankenaustausch fand vor rund sieben Monaten anlässlich einer Fachkonferenz zu „100 Jahre Reichsarchiv“ in Berlin statt. ++ (hi/mgn/16.06.20 – 093)
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