Genossenschaften und der real existierende Sozialismus in Deutschland nach 1945: Das Vorurteil, Genossenschaften seien sozialistische Experimente, hält sich hartnäckig. Und das, obwohl der Begriff „Genosse“ aus kosmetischen Gründen aus dem Genossenschaftsgesetz gestrichen und durch den Begriff „Mitglied“ ersetzt wurde. Doch was hatten und haben die Rechtsform der Genossenschaft und der Sozialismus gemeinsam?
Der Gedanke des Gemeinschaftseigentums ist ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsform Genossenschaft, aber auch der sozialistischen Ideologie. In der Genossenschaft werden wichtige Entscheidungen von unten, von der Mitgliederbasis getroffen. Im Sozialismus sollte die Macht vom Volk ausgehen und so weiter…
Historisch gesehen sind die Genossenschaftsidee und auch der Sozialismus Kinder der industriellen Revolution.
Es ging darum, die Lebensbedingungen der verarmten Bevölkerung zu verbessern und einen Ausgleich zwischen dem knappen und teuren Kapital und der massenhaft vorhandenen billigen Arbeitskraft zu schaffen.
Der Reichstagspolitiker und „Vater aller Volksbanken“, Schulze Delitzsch, hat sowohl das Genossenschaftsgesetz, aber auch die Sozialistengesetze auf den Weg gebracht. Es ging darum, das bestehende System zu stabilisieren. Der Sozialismus wollte die politischen Machtverhältnisse sowie die Eigentums- und Lebensverhältnisse grundlegend ändern.
Der DDR-Wissenschaftler Bahro beschreibt 100 Jahre später den real existierenden Sozialismus. Er unterscheidet grob vereinfacht zwischen dem sozialistischen Dogma „Einer für alle“ und der praktischen Umsetzung „Alle für einen“ oder „Herrschaft des Menschen über den Menschen“.
Also die Förderung einer elitären Klasse mit allen Privilegien durch einen auf Selbsterhaltung ausgerichteten politischen Machtapparat, der alle alten sozialistischen Hoffnungen zum Gespött der Massen gemacht hat. An die Stelle des „freien Marktes“ ist die Planwirtschaft getreten.Die Steuerung erfolgt von oben.
Die Partei verschmolz mit dem Staat, der bald die Rolle des „bösen Kapitalisten“ übernahm. Der Staat war mächtig, die Bürger ohnmächtig. Was gut funktionierte, war die Vernetzung der staatlichen Kontrollinstanzen und die Überwachung. Sie dienten vor allem dem Machterhalt.
Ähnliche Verhältnisse begegnen uns heute in den großen Bank- und Wohnungsgenossenschaften, die mehr als 90% aller Genossenschaftsmitglieder auf sich vereinigen. Ähnlich wie im real existierenden Sozialismus haben die „Genossen“ keinen Einfluss auf die Unternehmenspolitik ihrer Genossenschaft. Die Steuerung erfolgt nach dem Führerprinzip von oben nach unten. Auch hier gilt die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Vorstandsentscheidungen werden nachträglich zur Genehmigung vorgelegt und in offenen Abstimmungen per Handzeichen unter Gruppenzwang genehmigt.
Die „Planwirtschaft“ wird zeitgemäß von internationalen Unternehmensberatungen übernommen. Demokratie, Transparenz und Mitbestimmung, Gleichbehandlung sind Fremdwörter. Freie Meinungsäußerung wird systematisch behindert. Kritische Mitglieder werden ausgeschlossen.
Die Genossenschaftsorganisation übernimmt die Interessenvertretung ihrer Genossenschaften und mit staatlicher Unterstützung deren Steuerung. Der real existierende Sozialismus hat überlebt – in der genossenschaftlichen Selbstverwaltung.
„Wenn es so weit gekommen ist, daß die zentralen Partei- und Staatsinstanzen sich selbst Residenzen, Luxuslimousinen, Ferienschlösser und Spezialkliniken genehmigen, dann hilft nur noch die Entmachtung des ganzen Klüngels, der die entsprechenden Positionen besetzt hält.“ Rudolf Bahro: Die Alternative, Seite 459, zitiert nach http://philosophen-welt.blogspot.com
+++update 11.05.2024 ++++ Die Geno-Revolution hat begonnen+++
Gerald Wiegner, Vorstand igenos e.V. Interessengemeinschaft der Genossenschaftsmitglieder
update: Weitere GenoNachrichten zum Thema: Sind Wohnungsgenossenschaften am Gemeinwohl orientierte Unternehmen? Literaturempfehlung weiterführende Artikel Thema Wohnbaugenossenschaften und das genossenschaftliche Verbandswesen
Hintergrundinfo: Es stellt sich auch immer wieder die Frage: Was ist eigentlich eine Genossenschaft und wie soll das funktionieren.? Wichtig zu wissen: Genossenschaften und der real existierende Sozialismus sollten eigentlich wenig gemeinsam haben.
Die eingetragene Genossenschaft (eG) stellt eine eigenständige Rechts-, Unternehmens- und Kooperationsform dar. Wir unterscheiden zwischen Genossenschaftszweigen (Wirtschafts- Kultur und Sozialgenossenschaften) und eine Vielzahl von Genossenschaftsarten ( Energie- und Kreditgenossenschaften, ländliche Genossenschaften, Wohnungs- und Wohnungsbaugenossenschaften ) Der Förderzweck orientiert sich an der Art der Genossenschaft. Renditegenossenschaften sind nicht zugelassen.
Bei der eG handelt es sich um eine zweckgebundene Gesellschaftsform, was auf keine andere Rechtsform zutrifft. Gleichzeitig gilt ein Transparenzgebot. Die Geschäftstätigkeit ist zwingend darauf auszurichten, die Mitglieder – und nur diese – bei der Erreichung ihrer wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Ziele zu unterstützen. Wir sprechen hier vom Gebot der Mitgliederförderung, die keine andere Rechtsform aufweist. Der Kooperationsgrundsatz betont, dass gemeinsame Ziele gemeinsam erreicht werden sollen, was Einzelne auf sich allein gestellt nicht zu leisten vermögen.
Die eG ist der einzige Unternehmenstyp, der von Mitgliedern (als Eigentümern und Nutzern) getragen wird. Ohne Mitglieder gäbe es keine Genossenschaft. Das genossenschaftliche Identitätsprinzip und der daraus abzuleitende Partizipationsgedanke gewährt den Mitgliedern die Möglichkeiten ihren Förderanspruch selbst festzulegen. Die demokratische Struktur der Genossenschaft und absolute Transparenz sind wesentliche Bestandteile der Genossenschaftskultur.
Die Genossenschaftsmitglieder sind aufgefordert, ihre Genossenschaft mitzugestalten, aber ohne dabei in das Tagesgeschäft einzugreifen. Die Genossenschaftsmitglieder haben aber dafür die Möglichkeit, in der Generalversammlung Vorstand und Aufsichtsrat abzuwählen. Die Einzelheiten klärt die Satzung, die aufgrund der vorherrschenden Satzungsfreiheit jederzeit von der Generalversammlung angepasst werden kann.
Gemäß § 1 Abs. 1 des geltenden deutschen GenG sind Genossenschaften „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern“.
Die im Gesetzestext enthaltenen Merkmale beschreiben sowohl die originelle Rechtsform eG als auch das unverwechselbare Wesen einer Genossenschaft, nämlich einen freiwilligen Zusammenschluss von privaten Haushalten oder Erwerbsunternehmen, die das gemeinsame Interesse an der Lösung ökonomischer oder/und nichtökonomischer Aufgaben durch Zusammenarbeit verbindet.
An der Mitgliedschaft Interessierte treten freiwillig in die Genossenschaft ein und können ebenso wieder austreten. Insofern ist der Mitgliederkreis offen, was zu einem variablen Mitgliederbestand führt, der nicht geschlossene Mitgliederzahl.
Die genossenschaftliche Idee besteht darin, privaten Haushalten oder Erwerbswirtschaften unter Wahrung ihrer Selbständigkeit und Verantwortlichkeit kooperative Möglichkeiten der Teilnahme am Wirtschaftsleben zu erschließen und diese auch genossenschaftlich abzusichern. Die eingetragene Genossenschaft befindet sich im Gemeinschaftseigentum. Aufgrund der Förderzweckbindung sind die “Genossen” nicht am Wertzuwachs ihrer Genossenschaft beteiligt. Ausnahme ist die Auflösung, bzw. die Umwandlung der Genossenschaft in eine andere Rechtsform. Genossenschaften sind vielleicht die besseren Kapitalisten, aber keine am Gemeinwohl orientierte Unternehmen!
Verfasser: igenos Arbeitsgruppe Grundsatzfragen.
Die weiter unten angeführten vier Beiträge der Genonachrichten führten zu angeregten Diskussionen. Letztendlich stellte sich die Frage: Was ist eigentlich eine Genossenschaft? Hat die Rechtsform eG bereits ausgedient? Warum “ticken” Mini-Genossenschaften anders.
7 Kommentare.
[…] Beitrag zum Thema Staatsgenossenschaften- zurück in den real existierenden Sozialismus, befasst sich mit der Bundesrats Drucksache 500/20. Es handelt sich um einen Antrag des Landes […]
[…] insgesamt: “Es muss einfach irgendwie demokratisch und gemeinwohlorientiert klingen. Das Genossenschaftsmodell der DDR lässt hier grüßen.” Insgesamt seien die genossenschaftlichen Vorstellungen der Linken “eine recht schwer […]
[…] verfügt über einen beeindruckenden „Überbau“, der ein wenig an den real existierenden Sozialismus erinnert. Allerdings verkörperte der Sozialismus zumindest ein gewisses Klassenbewusstsein. […]
[…] 95.000 Genossenschaften vorweisen. Gerade den Schweizer Eidgenossen wird sicherlich niemand sozialistische Experimente vorwerfen wollen. Was machen wir in Deutschland falsch, warum haben wir solch eine tiefsitzende […]
[…] hört sich irgendwie verdächtig an. Darum werden Genossenschaften auch als sozialistische Experimente abgetan oder als arme Leute Firma. Genossenschaften werden aber auch immer wieder als gemeinnützig […]
[…] befassen. Genossenschaften sind keine am Gemeinwohl orientierten Unternehmen und auch keine sozialistischen Experimente, sondern Gemeinschaftsunternehmen, die sich im Eigentum der Mitglieder befinden, deren Mitglieder […]
Da ist einiges richtig dargestellt, wie es sich in der DDR abgespielt hat, aber eben nur einges. Die Mitbestimmung und Meinungsäußerung war in der DDR viel differenzierter als man es immer und immer wieder in den Medien heute darstellt. In den Betrieben und Institutionen gab es sicher viele Möglichkeiten seine Meinung zu äußern und das wurde auch genutzt. Außerdem haben die Kollektive, Brigaden, Hausgemeinschaften oft ihr eigenes Leben organisiert und somit auch sehr demokratisch gestaltet. Auch bei Ungerechtigkeiten konnte man letztlich oft auf die heute viel kritisierten Strukturen in den gesellschaftlichen Organisationen, einschließlich Partei, Unterstützung bekommen. Eine Grenze gab es, wenn es um die grundsätzliche Gesellschaftskritik ging. Wobei, wenn man es mit heute betrachtet, da kann ich vielleicht die Gesellschaft stärker und öffentlicher kritisieren, aber meistens interessiert das keinen. Daher kommt der Frust von den Nichtwählern. Meinungsäußerungen in Betrieben und Einrichtungen sind heute dagegen politisch nicht gewollt oder erlaubt und bei kritischen Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten wird der Einzelne am Ende auch den Kürzeren ziehen, nach dem Motto: „Wir können auf Sie nicht verzichten, aber wir versuhen es einmal, toll!“
Somit ist für mich die Meinungsfreiheit heute im unmittelbaren Umfeld des Bürgers viel eingeschränkter als zu DDR-Zeiten.