Rochdaler Satzung unterm Forscher-Mikroskop

Berlin/London, 14. Mail 2019 (geno). Um der Genossenschaftspraxis der europäischen Ahnen tiefer auf den Grund zu gehen, hat der Historiker und Genossenschaftsforscher Wilhelm Kaltenborn in der aktuellen Ausgabe der Vierteljahrespublikation „GenoSplitter“ die Aktivitäten der Rochdaler Pioniere eingehend unter die Lupe genommen. Unter seinem Mikroskop liegen die Prinzipien und die Satzung der vor 150 Jahren im englischen Industriegebiet gegründeten Modellkooperative. Die Satzung sei von 1844 an bei den Pionieren zwar immer präsent gewesen, wurde von Interessierten auch immer wieder eingesehen und in ihren wichtigsten Teilen interpretiert und zitiert. Jedoch sei sie in vollem Wortlaut erst Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlicht worden. Eine deutsche, von Robert Schloesser herausgegebene Übersetzung sei im Jahr 1927 erschienen.

In 14 Punkten, als eine Art Präambel den eigentlichen Satzungsbestimmungen vorangestellt, wird zunächst erklärt, welche Vorteile die freiwillige Eintragung in das in London geführte Register der Friendly Societies bietet. Dazu zählen: Die Bestimmungen waren bindend und konnten gerichtlich erzwungen werden; bei berechtigten Ansprüchen gegen die Genossenschaft und im Falle betrügerischer Auflösung würde den Mitgliedern und ihren Familien Schutz gewährt; Unterschlagungen würden bestraft; die Genossenschaft war von Stempelsteuern und Gerichtsgebühren befreit; Streitigkeiten zwischen Genossenschaft und Mitgliedern konnten abschließend durch Gerichte oder Schiedsrichter beigelegt werden; die Genossenschaft durfte ihr Kapital in Sparbanken und in öffentlichen Anleihen anlegen.

Allein diese Aufzählung macht, so Kaltenborn deutlich, mit welcher Umsicht und Sorgfalt die Pioniere ihre Regeln aufgestellt haben. Da sei durchaus mit Konflikten zwischen Genossenschaft und Mitgliedern gerechnet worden. Auch Unterschlagungen durch Mitarbeiter und schlampige Satzungsanwendung seien für möglich gehalten worden. Gegen solche Eventualitäten hätten sich sowohl die Pioniere selbst als auch ihre Genossenschaft gewappnet. Das war schon beachtlich, zumal es damals noch kein Genossenschaftsgesetz und keinen Rückgriff auf Tausende Gerichtsentscheidungen gegeben hat. Sie ließen sich von Menschenkenntnis und Primärerfahrungen genossenschaftlicher Natur leiten. Die Einhaltung der bis ins kleinste Detail formulierten Regeln wurde streng, kontinuierlich und kollektiv beobachtet, kontrolliert und Verfehlungen nötigenfalls sanktioniert.

Im Falle eines internen Konflikts sollte der Vorstand eine Lösung finden. Wenn ihm das nicht gelungen ist, entschied die Generalversammlung, die einmal pro Vierteljahr zusammenkam und für die Teilnahmepflicht der Mitglieder bestand. Kam auch dort keine Übereinkunft zustande, wurde die Angelegenheit an das Schiedsgericht verwiesen. Dafür wurden von der Generalversammlung fünf Schiedsrichter gewählt. Sie durften nicht, „weder direkt noch indirekt, an dem Kapital der Genossenschaft interessiert“ sein. Mussten sie einen Fall entscheiden, wurden drei von ihnen ausgelost. Deren Entscheidung war endgültig. ++ (hi/mgn/14.05.19 – 093)

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