Berlin, 22. Februar 2019 (geno). Seit drei Tagen prangt an einem Gebäude der Berliner Wohnungsgenossenschaft „Grüne Mitte“ im Bezirk Marzahn-Hellersdorf das berühmte Eugen-Gomringer-Gedicht „avenidas“. Die an der Ecke Gothaer Straße/Kyritzer Straße installierten Verse des bolivianisch-schweizerischen Lyrikers aus dem Jahr 1953 sind mit Leuchtbuchstaben ausgestattet und auch nachts zu lesen. Damit hat die Genossenschaft ihr Versprechen eingelöst, das von der Fassade der Alice Salomon Hochschule Berlin getilgte Gedicht wieder auferstehen zu lassen. Es war anlässlich der Verleihung des Poetik-Preises der Hochschule im Jahr 2011 an Gomringer am Hochschulgebäude aus Dank angebracht worden und mehrere Jahre später nach sehr emotionalen Debatten, die bis in die Akademie der Künste reichten, durch die Hochschulleitung entfernt worden. Anlass war, dass Studentinnen die Dichtkunst als sexistisch empfanden und einen landesweiten Meinungsstreit auslösten.
Mitglieder der Wohnungsgenossenschaft „Grüne Mitte“ hielten die Auseinandersetzungen für absurd und plädierten für einen „Umzug“ des Gedichts in ihr Wohnquartier. Der Genossenschaftsvorstand mit Andrej Eckhardt an der Spitze nahm das Vorhaben auf, kontaktierte Gomringer und ließ dessen Kunstwerk neu installieren. Damit schreibt die Wohnungsgenossenschaft Kulturgeschichte. Und nicht nur damit, denn sie baut auf ihrem Gelände auch ein eigenes Theater.
In einem offenen Brief an die Leitung der Alice Salomon Hochschule weist der Genossenschaftsvorstand darauf hin, dass die absonderliche Diskussion um das Gedicht den wahren, von Gewalt und Missbrauch betroffenen Sexismus-Opfern einen schlechten Dienst erweist. In dem Schreiben wird festgestellt, dass in Berlin vieles nicht funktioniert. „Wenn Unternehmen, die Wohnungen bauen, als gierig bezeichnet werden, wenn Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, vertrieben werden, wenn wie in Ihrem Fall, Künstler erst gelobt und dann verunglimpft werden, Nicht die Aktiven, die diese Stadt gestalten wollen, werden unterstützt, sondern die, die gegen alles sind. Dass es solche Menschen gibt, ist normal. Aber schlimm ist, dass wir nicht die Argumente austauschen und ihnen die Grenzen aufzeigen“, heißt es in dem Brief. In Berlin gebe es eine „Diktatur der Schreihälse“, vor denen Politik und Bildung Angst haben. Das mache Angst. Auf den Brief reagierte die Hochschulleitung bislang nicht. ++ (ku/mgn/22.02.19 – 037)
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