St. Gallen, 24. Januar 2019 (geno). Die genossenschaftliche Dachorganisation Raiffeisen Schweiz litt an einer ausgeprägten Ja-Sager-Kultur und an der Sebstherrlichkeit ihres ehemaligen Chefs Pierin Vincenz. Das sind zentrale Erkenntnisse des nunmehr vorliegenden Untersuchungsberichts über die Ära Vincenz und dessen seit 2010 vorangetriebener Diversifikationsstrategie in dieser drittgrößten Bankengruppe des Alpenlandes. Ermes Gallarotti schreibt am Donnerstag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), dass es allen haarsträubenden Vorfällen zum Trotz keine klaren und eindeutigen Hinweise auf strafrechtlich relevantes Handeln gibt. „Um die Unabhängigkeit vom Hypothekargeschäft zu reduzieren, ging die von Vincenz geführte St. Gallener Zentrale dazu über, Beteiligungen an einer ganzen Reihe von Unternehmen aus der Finanzbranche zu kaufen. Zwischen 2012 und 2015 kam es zu über 100 Transaktionen, die mit über einer Milliarde zu Buche schlugen. Diese unternehmerisch nachvollziehbare strategische Neuausrichtung geriet zum Fiasko, weil Vincenz Raiffeisen Schweiz in einen Hofstaat verwandelte, in dem Geschäftsleitungsmitglieder und Verwaltungsräte ihm, dem regierenden Fürsten, ergebendst zu Diensten standen. ‚Raiffeisen, c’est moi‘, so lautete die Devise. In einer solchen von vorauseilendem Gehorsam geprägten Umgebung versagten die Überwachungs- und Kontrollmechanismen, falls es sie überhaupt gab“, kommentierte der NZZ-Journalist.
Der Untersuchungsbericht, der in voller Länge und in angemessener Transparenz im Internet zu lesen ist, umfasst die Jahre von 2005 bis 2015. Daraus geht hervor, dass zu den zentralen Quellen zwölf Millionen E-Mails, Anhänge und Kalendereinträge gehörten. Außerdem wurden 50 Interviews mit 38 Personen geführt. Lediglich zwei beteiligte Verantwortungsträger verweigerten das Gespräch. Der Autor des Reports registrierte eine Überforderung der Strukturen, „Hemdsärmeligkeit“ und „Kultur des vorauseilenden Gehorsams“.
In einer Medienmitteilung des genossenschaftlichen Finanzverbundes vom Vortag werden dezentere Formulierungen verwandt. „Durch mangelnde Führung und Kontrolle, organisatorische Versäumnisse und eine personenzentrierte Kultur sind finanzielle Nachteile, vor allem aber ein Reputationsschaden für die ganze Raiffeisen Gruppe entstanden.“ Nach den Worten von Heinz Huber, dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung von Raiffeisen Schweiz „bedarf es eines Neustarts“. Es werde eine Modernisierung unter der Formel „Reform21“ eingeleitet und eine neue Strategie entworfen. Der im November vergangenen Jahres neu gewählte Präsident des Verwaltungsrates, Guy Lachappelle, sagte: „Raiffeisen ist sich seiner Herkunft bewusst. Raiffeisen wurde als Vorbild wahrgenommen – regional verwurzelt, nah und nach ethischen Grundsätzen handelnd. Die Vorbildfunktion hat gelitten. Wir setzen alles daran, diesem Anspruch wieder nachhaltig gerecht zu werden.“
Raiffeisen Schweiz vereint unter seinem Dach 1,9 Millionen Genossenschaftsmitglieder und 3,8 Millionen Kunden. Die Bilanzsumme beträgt 229 Milliarden Franken. Die Raiffeisen Gruppe ist an 896 Standorten präsent. In ihr sind 246 rechtlich autonome und genossenschaftlich organisierte Raiffeisenbanken zusammengeschlossen. ++ (fz/mgn/24.01.19 – 016)
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