Ist das deutsche Genossenschaftsgesetz GenG noch zeitgemäß?

Bullay, den 25.Juli 2023/igenos. Um zu verstehen, wieso das Genossenschaftswesen in Deutschland einer Reform bedarf, ist es notwendig, sich noch einmal die Wurzeln der Genossenschaftsidee in Erinnerung zu rufen. Die Genossenschaft gilt bis heute als deutsche Erfindung – und wurde bei der UNESCO auch entsprechend geschützt -, jedoch hat u.a. Kaltenborn klargestellt, dass die „redlichen Pioniere von Rochdale“ bereits 1844, lange vor der Einführung des Preußischen Genossenschafts-gesetzes durch Schulze-Delitzsch im Jahr 1869, den heute vom Weltverband der Genossenschaften ICA getragenen und weiterentwickelten Genossenschaftsgedanken maßgeblich geprägt haben. Kaltenborn verknüpft die Genossenschaftsidee sogar mit steinzeitlichen Jagdgemeinschaften und altrechtlichen Waldgenossenschaften. Unstrittig ist, dass sich die Genossenschaften in den verschiedenen Regionen Europas als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung entwickelten. Mit ihnen war eine neue Arbeitsteilung, ein Wertewandel und eine massive Umgestaltung der nationalen Gesellschaften verbunden.

Das von Schulze-Delitzsch begründete Genossenschaftssystem hatte dagegen einen anderen, politischen Hintergrund als das Modell der Pioniere von Rochdale und ähnliche Bewegungen. Es war ursprünglich als eine liberale Idee konzipiert, die zur Stärkung des  Mittelstands, besonders des Handwerks, konzipiert wurde. Genossenschaften dienten der Stabilisierung des politischen Systems und richteten sich unter anderen gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, welche die damalige Gesellschaftsstruktur grundsätzlich in Frage stellten. Während Schulze-Delitzsch die Systemschwächen der freien Marktwirtschaft abfedern wollte, ging der Arbeiterführer und SPD-Mitbegründer Ferdinand Lassalle deutlich weiter. Er sah in der Genossenschaft die Aufhebung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit.  

Schulze-Delitzsch und Lassalle idealisierten beide auf ihre Art die Rechtsform Genossenschaft in einer Zeit, die einerseits durch Landflucht und Hungerlöhne, andererseits durch eine preußisch geprägte industrielle Konditionierung und die Anfänge des Sozialversicherungssystems geprägt wurde. Schon bald fand die Genossenschaftsbewegung regen Zulauf. Auch „Sozialdemokratisch organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen die neuen Unternehmensformen mit Begeisterung auf, was nicht zuletzt die Entwicklung der Konsumgenossenschaften zeigte. Eine ähnliche Entwicklung konnte bei den Wohnungsgenossenschaften beobachtet werden.“ Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Strukturen aufzubauen, und 1861 entstanden die ersten zentralen Vereine und Verbände. Als Reichstagsabgeordnetem gelang es Schulze-Delitzsch, das liberale Modell im Genossenschaftsgesetz von 1869 zu institutionalisieren. Das Gesetz betonte die fördernde und kontrollierende Mitwirkung der politischen Organe, auch um einen Umsturz zu verhindern. Man kann die Genossenschaftsidee Schulze-Delitzscher Prägung also als eine Form der Wirtschaftsförderung ansehen. In der Folge hatte die Anzahl der Genossenschaften ihre Hochphase in der Weimarer Republik.
Mit dem Ende des ersten Weltkriegs 1918 erlebte die Genossenschaftsbewegung in der Weimarer Republik mit mehr als 53.000 Genossenschaften einen Höhepunkt und erlangte ihre Blütezeit nach der Weltwirtschaftskrise bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Von diesem Zeitpunkt an widersprachen die demokratischen genossenschaftlichen Strukturen der Weltanschauung des neu gewählten Regimes.


Ferdinand Lassalle SPD, Genossenschaften, liberale Wirtschaftspolitik, SPD Sozialdemokratische Partei
Jetzt Spenden! Das Spendenformular wird von betterplace.org bereit gestellt.

1 Kommentar.

  • Martin Sirius
    26. Juli 2023 18:27

    Schulze-Delitzsch und Lassalle idealisierten beide auf ihre Art die Rechtsform Genossenschaft in einer Zeit, die einerseits durch Landflucht und Hungerlöhne, andererseits durch eine preußisch geprägte industrielle Konditionierung und die Anfänge des Sozialversicherungssystems geprägt wurde. Schon bald fand die Genossenschaftsbewegung regen Zulauf. Auch „Sozialdemokratisch organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen die neuen Unternehmensformen mit Begeisterung auf, was nicht zuletzt die Entwicklung der Konsumgenossenschaften zeigte. Eine ähnliche Entwicklung konnte bei den Wohnungsgenossenschaften beobachtet werden.“ Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Strukturen aufzubauen, und 1861 entstanden die ersten zentralen Vereine und Verbände. Als Reichstagsabgeordnetem gelang es Schulze-Delitzsch, das liberale Modell im Genossenschaftsgesetz von 1869 zu institutionalisieren. Das Gesetz betonte die fördernde und kontrollierende Mitwirkung der politischen Organe, auch um einen Umsturz zu verhindern. Man kann die Genossenschaftsidee Schulze-Delitzscher Prägung also als eine Form der Wirtschaftsförderung ansehen.

Kommentare sind geschlossen.