Marburg/Berlin, 24. Juli 2023 (geno). Die Vertreterversammlung erweist sich mehr oder minder als Gift für die genossenschaftliche Demokratie. Das verdeutlicht der Berliner Gemeingut- und Alternativ-Ökonom Wolfgang Fabricius. Die Angriffe auf diese fundamentale Eigenschaft des Genossenschaftswesens hätten bereits zu Zeiten der Weimarer Republik begonnen.
Dazu schreibt Fabrizius: „Wegen der ursprünglichen Anwesenheitspflicht der Mitlieder in den Mitgliederversammlungen konnten mit der Zeit keine ausreichend großen Räumlichkeiten mehr gefunden werden. Wohl auf Betreiben der damaligen Genossenschaftsverbände wurde deshalb 1922 in Genossenschaften über 3.000 Mitgliedern fakultatitiv und über 10.000 Mitgliedern obilgatorisch die Mitgliederversammlung durch eine Vertreterversammlung ersetzt und so die direkte Demokratie in Genossenschaften durch eine indirekte Demkratie abgelöst. 1926 wurden diese Grenzen dann auf 1.500 bzw. 3.000 Mitglieder herabgesetzt.“ Jedoch habe der Gesetzgeber die Nachteile dieses gesetzlichen Eingriffs in die genossenschaftliche Selbstverwaltung wahrgenommen und die obligatorische Vertreterversammlung ab 3.000 Mitglieder wieder aus dem Genossenschaftsgesetz entfernt – allerdings erst am 20. Dezember 1993. Damit nicht alle Satzungen geändert werden mussten, wurde es den Genossenschaften freigestellt, bei einer Mitgliederzahl über 1.500 auch weiterhin die jährliche Mitgliederzusammenkunft – durch eine Vertreterversammlung zu ersetzen.
Zu den Kritikern des derart verwässerten demokratischen Grundprinzips in Kooperativen gehören Prof. Volker Beuthien von der Universität Marburg und Burchhard Bösche, ehemaliger Geschäftsführer des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften. Auch igenos e.V. die Interessenvertretung der Genossenschaftsmitglieder spricht sich für eine sofortige Abschaffung der Vertreterversammlung aus, insbesondere dann die Vertreter im Rahmen einer Fusion über die Auflösung ihrer Genossenschaft abstimmen sollen.
Fabrizius empfiehlt, die direkte Demokratie wie vor 1922 wieder zu praktizieren. Die Mitglieder sollten das Recht haben, ihre Verbundenheit mit der Genossenschaft und miteinander zu pflegen und sich mindestens einmal im Jahr zu versammeln. Zudem müssten sie auch das Recht auf Einflussnahme wieder eingeräumt bekommen. „Durch die Änderung des Genossenschaftsgesetzes 2006 gibt es auch die Möglichkeit, Beschlüsse schriftlich und in elektronischer Form zu fassen, wenn die Satzung dies vorsieht. Dadurch werden virtuelle Mitgliederversammlungen mittels- Ton- und Bildübertragung. Die Raumnot als ursprüngliche Begründung für die Einrichtung der Vertreterversammlung ist damit weggefallen.“ Die Initiative „Genossenschaft von unten“ habe deshalb zusätzlich zu einer Mustersatzung für Genossenschaften auch eine Mustersatzung für Genossenschaften ohne Vertreterversammlung formuliert.
++ (vv/mgn/24.07.23 – 096)
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