Bullay, 20.01.2023 (igenos). Wenn wir uns am Beispiel der Genossenschaftsbanken (GenoNachrichten 17.01.23) mit dem Verfremdungen im Genossenschaftssektor befassen wird ein angedachtes „Leitbild einer artgerechten Genossenschaft“ benötigt. Diese Idealgenossenschaft dürfte jedoch genügend Anhaltspunkte für die Bestimmung von Abweichungen vom arttypischen Profil einer Genossenschaft liefern. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit eine Diskrepanz zwischen artgerechtem und realem Zustand besteht, die Anlass zu Besorgnis gibt. Ein solches Modell ist keineswegs überholt, weshalb davon merklich abweichende Genossenschaften zur Abkehr vom Status einer „echten Genossenschaft“ und zugleich zur Annäherung an den Gegensatztyp einer deformierten Genossenschaft beitragen. Es kommt zur Degeneration von Genossenschaftskultur. Je mehr Abweichungen bei einer Genossenschaft in Erscheinung treten und zu Identitätsdefiziten führen, umso mehr kann diese als von ihrer Art und von der Mitgliederbasis entfremdet bezeichnet werden. Und je mehr Einzelgebilde eines genossenschaftlichen Zweiges deutliche Verfremdungen aufweisen, desto mehr erscheint es angebracht, in der betreffenden Sparte ein „verfremdetes genossenschaftliches System“ zu sehen. Diesbezüglich unterscheiden sich die in der Statistik der deutschen Genossenschaften unterschiedenen fünf Genossenschaftszweige (Kredit-, ländliche, gewerbliche, Konsum- und Wohnungsgenossenschaften) voneinander. Wie aus dem umfangreichen genossenschaftsbezogenen Schrifttum hervorgeht, sind Verfremdungen besonders im Bereich größerer Primärgenossenschaften zu beobachten. Dafür lassen sich konkrete Belege liefern.
Fragen wir vorab nach den möglichen Gründen, die eine Verfremdung nicht weniger Genossenschaften herbeigeführt haben, so zeigt sich folgendes Bild:
- Nicht oder nur begrenzt beeinflussbare Veränderungen des Systems „Genossenschaft“ gehen auf den Wandel im wettbewerblichen und gesellschaftlichen Umfeld mit negativen Konsequenzen für die Mitgliederbindung an ihre Genossenschaft zurück. So lässt der Trend zur Ökonomisierung, zu Größenwachstum und Fusion die Vorzüge der Genossenschaft als wertebezogene Mitgliedergemeinschaft in den Hintergrund treten.[4] Davon betroffen sind sowohl die Organisationsbeziehung (Mitwirkung an der Selbstverwaltung, Teilhabe an Meinungsbildung und Erfahrungsaustausch im Mitgliederkreis u. a.) als auch die Wirtschaftsbeziehung (Frequentierung des gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs, Bereitstellung von Kapital u. a.) der Mitglieder zu ihrer Genossenschaft.
- Sodann hat der Gesetzgeber durch Änderungen des Genossenschaftsrechts mit Verfremdungspotenzial zum Verlust genossenschaftlicher Arteigenheit beigetragen. Zu erinnern ist an die Zulassung eines faktisch unbegrenzten Nichtmitgliedergeschäfts, die Rückbildung des Grundsatzes der genossenschaftlichen Selbstverantwortung durch Abmilderung der Mitgliederhaftpflicht, die Eigenverantwortlichkeit des Vorstandes oder die Möglichkeit einer Aufnahme investierender Mitglieder. Offenbar hat der Gesetzgeber zu wenig die Negativwirkungen bestimmter Gesetzesänderungen bedacht. Vor allem wurde versäumt, die eG in ihrer personalistischen Struktur und Förderwirtschaftlichkeit wieder eindeutig als mitgliedergewidmete Unternehmensform zu positionieren.
- Auch die Genossenschaften selbst haben durch Vernachlässigung ihrer wertegebundenen Besonderheiten und Angleichung an die Geschäftsmethoden erwerbswirtschaftlicher Konkurrenten zur Verfremdung beigetragen. Weite Kreise der Genossenschaftspraxis interpretieren die Anpassungsstrategie als notwendige Reaktion auf die Marktverhältnisse. Für möglich erachtet wird eine „Orientierung an Wettbewerbszielen, an Marktanteilen und der Erringung wirtschaftlicher Macht häufig nur über eine gezielte Ausweitung des Nichtmitgliedergeschäfts und eine systematische Abkopplung von den Mitgliedern und deren Interessen möglich.“ (1) Daraus folgt eine verminderte Bedeutung der Mitglieder und eine systematische Abkopplung von deren Interessen. Vor allem in größeren Genossenschaften sind die Werte des eG-Unternehmenstyps weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Mitgliederbeziehung wandelt sich immer mehr zu einer bloßen Kundenbeziehung. Schließlich sind auch Mitglieder mit ihrem abnehmenden Genossenschaftsbewusstsein und passiven Verhalten gegenüber ihrer Genossenschaft an deren Verfremdung beteiligt. Zu denken ist dabei an die „Formalmitgliedschaften“ nichtnutzender Mitglieder, deren Interesse sich auf eine möglichst hohe Rendite auf das eingebrachtes Kapital beschränkt. Dieser Personenkreis zeigt demgemäß kaum Bereitschaft, an der genossenschaftlichen Selbstverwaltung (Teilnahme an demokratischer Willensbildung und Kontrolle in der Mitgliederversammlung, Übernahme eines Ehrenamtes) mitzuwirken. Mitgliederpassivität zeigt sich nicht nur in nachlassender funktionaler Bindung an das Gemeinschaftsunternehmen, sondern auch in der Organisationsbeziehung zur Genossenschaft, etwa in abnehmendem Interesse am internen Geschehen der Genossenschaft und daraus folgendem geringem Engagement.
In Teilen der Genossenschaftspraxis läuft das genossenschaftliche Selbstverständnis Gefahr, derart verschwommen zu erscheinen, dass von einer Identitätskrise gesprochen werden kann. Zum Nachweis dessen und besseren Verständnis werden in den kommenden Beiträgen der GenoNachrichten ausgewählte Beispiele für Verfremdungserscheinungen bei Genossenschaften aufgezeigt, die aufgrund der Verwässerung ihrer typspezifischen Eigenart als Profileinbußen zu deuten sind. Anlass dazu besteht insbesondere, wenn die Wahrnehmung der Mitglieder durch ihre Genossenschaft, ebenso der Genossenschaft durch ihre Mitglieder zu wünschen übrig lässt. Es sollte Einigkeit dahingehend bestehen, dass Unternehmen, die als eG firmieren, niemals eine verselbständigte Einrichtung sein können, vielmehr an das Mitglied gebunden bleiben.
(1) vgl. Helmut Wagner: Mitgliederbindung – zwei Seiten der gleichen Medaille, in: Herkunft und Zukunft – Genossenschaftswissenschaft und Genossenschaftspraxis an der Wende eines Jahrzehnts S. 29 (23-31)
(c)2017-2023 igenos e.V. Interessenvertretung der Genossenschaftsmitglieder, genoleaks.de, Arbeitsgruppe CoopGo Grundsatzfragen