Bullay, 18.01.2023 (igenos) Fortsetzung unserer Artikelserie vom 15.01.2023. Seit der Entstehung der ersten modernen Genossenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen tiefgreifend verändert. Folgerichtig können heutige Genossenschaften nicht vom selben Geist wie damals erfüllt und der genossenschaftliche „kulturelle Kern“ nicht unverändert verbindlich sein wie in der Entstehungsphase. Andererseits ist es eine Binsenweisheit, dass heutige Genossenschaften nachhaltige Vorteilspositionen im Wettbewerb nur aufbauen und erhalten können, wenn sie ein diffuses Selbstverständnis vermeiden, indem sie sich durch ein unverwechselbares Profil von ihren Konkurrenten abheben. Als herausragend wichtige Differenzierungspotenziale sind arteigene Besonderheiten, in denen sich genossenschaftliche Identität manifestiert.
Eine zeitgemäße Modifikation zentraler Werte einer Genossenschaftsidentität kann und darf nicht beliebig und insbesondere nicht durch bloße Annäherung an Strategien der Konkurrenten geschehen. Erfolgreiche Behauptung im Markt und die Erfüllung des mitgliederbezogenen Auftrags verlangt nach Strategien, die darauf hinwirken, das Genossenschaftssystem als Ganzes funktionsfähig zu erhalten. Dies erfordert, typische Stärken des Genossenschaftsmodells auszubauen, um eine möglichst klare Abgrenzung von anderen Unternehmensformen zu erreichen. Genossenschaften brauchen Orientierungen, die ihnen zu einem unverwechselbaren Erscheinungsbild verhelfen und das Fundament für eine Genossenschaftsidentität bilden, von der positive Einflüsse sowohl auf eine aktive Mitgliederorientierung als auch auf eine entsprechende Zuwendung der Mitglieder zur Genossenschaft ausgehen. Dazu wäre es notwendig, die wesentlichen genossenschaftlichen Charakteristika bewusst als Wettbewerbsvorteil herauszustellen und zur offensiven Profilierung im Wettbewerb zu nutzen. Dies erscheint umso naheliegender, je härter der jeweils relevante Markt umkämpft ist und ja stärker Genossenschaften in das Konkurrenzgeschehen eingebettet sind.
Mit der Verhaltensempfehlung, sich auf dem Markt zu behaupten ohne die Identität ihrer Rechtsform aufzugeben, stimmen die heutigen Gegebenheiten nur in Ausnahmefällen überein. Das ist kein Geheimnis. In den letzten Jahrzehnten haben sich besonders auf der primärgenossenschaftlichen Ebene des deutschen Genossenschaftssektors fragwürdige Veränderungen vollzogen, die ein Hinterfragen verdienen. Sie betreffen die Kompetenzverteilung zwischen den Organen einer Genossenschaft, das Größenwachstum und die Ausdehnung des Nichtmitgliedergeschäfts mit negativen Auswirkungen auf die Bedeutung der Mitgliedschaft und den Mitgliederstatus. Nicht zu übersehen sind ferner die modifizierte Anwendung bestimmter genossenschaftlicher Prinzipien sowie der in einzelnen Sparten zu beobachtende Wandel der Mitgliederbeziehungen zu reinen Kundenbeziehungen. Nicht zuletzt wird es dort, wo arteigene und darunter ökonomisch nützliche Konturen verwischen, schwerfallen, Vorteile zu identifizieren, die Außenstehende zum Erwerb der Mitgliedschaft veranlassen könnten.
Die eingetretenen, im genossenschaftsbezogenen Schrifttum seit den 1980er Jahren eingehend erörterten Identitätseinbußen sind als Verfremdungen des Systems „Genossenschaft“ zu bezeichnen. Dieses Thema verrät Unbehagen. Aber gerade erscheint es gerechtfertigt, die hier zunächst nur angedeuteten Veränderungen sowie ihre Ursachen vor dem Hintergrund der rechtlichen Verfassung der Genossenschaft und Vorstellungen von einer „artgerechten Genossenschaft“ zu diskutieren. Aus der Identifikation von Fehlentwicklungen können sich Anregungen für die Herausbildung von Erfolgspotenzialen ergeben. Dieser Beitrag wird fortgesetzt.
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