Bullay, den 5.08.2022/igenos. Das deutsche Genossenschaftswesen hat eine lange und erfolgreiche Tradition. Daran ist nicht zu zweifeln. Doch die seit einiger Zeit im genossenschaftsbezogenen Schrifttum ausgewiesenen Bewertungen deutscher Genossenschaften ergeben ein Gesamtbild, das nicht widersprüchlicher sein könnte: Einerseits werden sie als „Modell der Zukunft“ und „attraktives Gestaltungskonzept“ gepriesen. Dem steht entgegen: Nicht zuletzt, weil die Gesamtzahl der Genossenschaften seit Langem rückläufig ist, wird die eingetragene Genossenschaft als „Auslaufmodell“, dann wieder als „Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert“ bezeichnet und es werden Fragen der Art „Wozu noch Genossenschaften?“ aufgeworfen. Diese Widersprüchlichkeit soll hier nicht kommentiert werden.
Besorgnis kommt allerdings auf, wenn seit Jahrzehnten in der Genossenschaftspraxis Tatbestände auftreten, die mit Sinn und Zweck einer Genossenschaft, nicht zu vereinbaren sind. Einige Beispiele sollen zeigen, was damit gemeint ist:
(1) Es besteht ein Dauerkonflikt zwischen Identitätsfindung und Artverfremdung. Für viele in der Genossenschaftspraxis Verantwortliche und sonst wie Tätige hat „Mitgliederförderung“, das oberste genossenschaftliche Wesensprinzip, den Charakter eines Fremdwortes angenommen. Auch macht man sich nicht die Mühe, herauszufinden, welche Förderung die Mitglieder erwarten.
(2) Dem Nutzen für die Genossenschaft wird nicht selten Vorrang vor dem Nutzen für die Mitglieder eingeräumt. In der Bilanz einen zweckwidrig hohen Gewinn (auf Kosten der Mitgliederförderung) auszuweisen und dann von einem „starken Geschäftsjahr“ oder einem „höchst erfreulichen Ergebnis“ zu sprechen passt keineswegs zu genossenschaftlichem Verständnis.
(3) Fremdgeschäfte der Genossenschaften sind ein ewiger Zankapfel. Die Zulässigkeit des atypischen Nichtmitgliedergeschäfts sollte nicht unbegrenzt erlaubt sein und die Mitgliedschaft abwerten. Zudem führt die konditionengleiche Behandlung von Mitglieder- und Nichtmitgliedergeschäften zu einer Diskriminierung der Mitglieder, ohne die es keine Genossenschaft gäbe.
(4) Unverständlich ist sodann der straffreie Umgang mit Förderzweckverstößen. Ist doch im Prüfungsbericht dazu Stellung zu nehmen, ob und wie die Genossen-schaft einen zulässigen Förderzweck verfolgt hat (§ 58 GenG). Schließlich kann eine Genossenschaft, die den Förderzweck mehr oder weniger ignoriert, aufgelöst werden (§ 81 GenG). Vorschrift ist das Eine, deren Beachtung und ernst- zunehmende staatliche Kontrolle das Andere.
(5) In offensichtlicher Unbekümmertheit werden von Genossenschaftsverbänden frei erdachte „genossenschaftliche Werte“ propagiert, die weitab von dem liegen, was genossenschaftsspezifisch genannt werden kann. Beispiel „Nachhaltigkeit“ ist in aller Munde, kann demnach nicht den Genossenschaften als Marken-zeichen angeheftet werden. Gleiches gilt für viele andere aktuelle Erfindungen genossenschaftlicher Werte, auf die Genossenschaften keinen Alleinanspruch reklamieren können.
(6) Gegenüber Aufsichtsräten, die vom Vorstand handverlesen ausgesucht in das Kontrollorgan gehievt wurden, herrscht an der Basis zunehmendes Unbehagen. Sie fallen, was die stellvertretend für die Mitglieder auszuübende Überwachungsfunktion betrifft, als Bremse gegen mögliches eigenwilliges Agieren der Leitungsinstanz aus. Es besteht die Gefahr, dass der Förderauftrag allenfalls halbherzig umgesetzt wird.
(7) Den größten Verlust an genossenschaftlicher Substanz erleiden Genossenschaften, die sich durch mehrfache Fusionen zu Großgebilden entwickelt haben. Unter der Größe leidet gewöhnlich die Nähe zu den Mitgliedern. Entfremdung der Mitglieder von der verfremdeten Genossenschaft stellt sich ein. Zudem erlangt Markterfolg oberste Priorität vor dem Wohl der Mitglieder. Die „Fusionitis“ hat Genossenschaften von ihrem Kernanliegen entfernt.
Das alles ist aus der einschlägigen Literatur längst bekannt. Man muss sich wundern, dass diese Einwände wider artgemäßes Verhalten am Handeln in der Praxis nichts verändern konnten. Zeit dazu stand zur Verfügung, aber es fehlte am Willen zu Korrekturen. Eingetreten ist eine deutliche Machtverschiebung von der Mitgliederbasis zu den Genossenschaftsvorständen und zu den Verbänden. Die ehedem hochgelobte genossenschaftliche Demokratie ist weitgehend auf der Strecke geblieben. Möglich war das nur durch eine vehement vorangetriebene Autonomie des Genossenschaftsvorstands, der wiederum von der Verbandsebene gesteuert wird.
Wie konnte es dazu kommen? Gewiss hat an dieser Entwicklung auch die Passivität der Mitglieder in der Selbstverwaltung ihren Anteil. Experten vermuten allerdings, mehr noch habe dazu eine missverständliche Befolgung des § 27 (1) des Genossenschaftsgesetzes beigetragen: „Der Vorstand hat die Genossenschaft unter eigener Verantwortung zu leiten.“ Andere Inhalte des Gesetzes interessieren kaum oder wurden erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Ohne lebt es sich besser.
Ein Schlusswort gebührt der aktuellen Werbekampagne der Volks- und Raiffeisenbanken. Nachdem die bereits vorhandenen Mitglieder weitgehend von ihrer Einflussnahme auf das Geschehen in ihrer Genossenschaft befreit sind und die Mitgliederzahl seit 2018 rückläufig ist, weil man frei von Nachteilen auch Nichtmitglied sein kann, wird den TV-umworbenen Noch-nicht-Mitgliedern floskelhaft mitgeteilt: „Wir gehören unseren Mitgliedern. Wir sind Genossenschaftsbanken. Werden auch Sie Mitglied.“ Klingt das nach Veränderung? Nein, denn von Mitgliedernutzen ist keine Rede. Warum dann Mitglied werden?“
Verantwortlich für den Inhalt: igenos e.V. Arbeitskreis Mitgliederförderung in Zusammenarbeit mit der AG Fusionspolitik.
igenos versteht sich als Interessenvertretung der Genossenschaftsmitglieder. Der Verein unterstützt mit er CoopGp initiative die Gründung neuer Genossenschaften