Erfurt, 16. Oktober 2020 (geno). Auf der diesjährigen Mitgliederversammlung des Deutschen Bauernverbandes am Freitag in Erfurt wurde Präsident Joachim Ruckwied wiedergewählt. Aus all seinen Äußerungen vor und während des Kongresses geht hervor, dass genossenschaftliches Wirtschaften auf dem Lande für ihn gänzlich unvorstellbar ist. Allein das Wort kommt ihm nicht über die Lippen.
In einem Interview mit der „agrarzeitung“ sagt er zur deutschen Wiedervereinigung und dem Anschluss der ostdeutschen Agrarwirtschaft, die fast ausnahmslos aus Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) bestanden hatte: „Wir sind zusammengewachsen. Wir haben einen Korpsgeist und wir denken gesamtdeutsch. Es gibt zum Teil unterschiedliche Fragestellungen in Ost und West, die sich aus der Historie ergeben, etwa im Zusammenhang unterschiedlicher Betriebsgrößen und Rechtsformen. Aber am Ende sind wir alle Bauern. Wir sind geerdet, bodenständig, haben die gleichen Herausforderungen zu meistern.“ Zur Agrarstruktur habe er eine klare Meinung: Landwirtschaft sollte familien- oder mehrfamiliengetragen sein. In den westlichen Bundesländern ist das vornehmlich der typische Familienbetrieb, der sich aber auch weiterentwickelt und in zunehmendem Maße mit festangestellten Fremdarbeitskräften wirtschaftet. In den jüngeren Bundesländern sind das oftmals Mehrfamilienbetriebe in unterschiedlicher Ausgestaltung. Das sei sein Selbstverständnis von Landwirtschaft.
Entgegen einer solch schwammigen, fast illusionären Vorstellung des höchsten Chefs der deutschen Bauernschaft, der getrost als rein altbundesdeutsches Gewächs zu betrachten ist, verlaufen die tatsächlichen Entwicklungen der ehemaligen Agrargenossenschaften in der Ex-DDR. Wie das praktisch aussieht schildert der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) vor wenigen Wochen: „Thüringens früherer Bauernpräsident Klaus Kliem hat seine Agrargesellschaft einer privaten Stiftung des Aldi Erben Theo Albrecht Junior verkauft. Wie der Unternehmenssprecher von Aldi-Nord Florian Schalbeck MDR THÜRINGEN bestätigte, übernimmt die Boscor Land- und Forstwirtschafts GmbH die Agrar-, Dienstleistungs- und Baugesellschaft (Adib) in Bad Langensalza. Boscor gehört zur Lucas-Stiftung des Aldi Erben Theo Albrecht Junior. Mit einer bewirtschafteten Fläche von rund 6.000 Hektar ist dies die größte Übernahme eines Agrarbetriebes in Thüringen. Nach MDR-Informationen bekommen die Gesellschafter rund 27 Millionen Euro. Dazu übernimmt die Aldi-Stiftung die Altschulden der Adib, die bei rund 13 Millionen Euro liegen. Alle rund 60 Gesellschafter haben dem Verkauf zugestimmt. Klaus Kliem und seine Familie hielten an der Adib 52 Prozent. Kliem selbst war 47 Jahre in leitender Position tätig. Bis zur Wende als LPG-Vorsitzender der LPG Aschara, nach der Umwandlung der LPG in eine GmbH & Co. KG als deren Geschäftsführer. Von den einst über 800 Genossen haben also mehr als 700 ihre Anteile verkauft. Die übrig gebliebenen können sich nun über eine gute Verzinsung ihres Geschäftsanteils freuen.“
Vor dem Hintergrund der speziellen ostdeutschen Agrargeschichte darf geschlussfolgert werden, dass allein im vorliegenden Fall Genossenschaftseigentum von mehr als 700 Mitgliedern zugunsten einiger weniger Profiteure verhökert worden ist. Dazu wird die Einführung der Marktwirtschaft in der Ex-DDR als fadenscheiniger Vorwand benutzt. Zu diesem Generalmiss-Stand, der offensichtlich von einem gigantischen Korruptions-Netzwerk eingefädelt worden und zu verantworten ist, schweigt die Politik eisern – seit dreißig Jahren und auf allen Ebenen. Denkbar ist, dass sie in die klandestinen Vorgänge verwickelt ist, wird befürchtet. Das geht aus den Untersuchungen hervor, die seinerzeit von der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) eingeleitet worden sind. Diese Behörde wurde zehn Jahre nach ihrer erfolgreichen Aufklärungsarbeit plötzlich und überraschend aufgelöst. ++ (lw/mgn/16.10.20 158)
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