Hamburg, 6. Mai 2019 (geno). Das einst von seinem Herausgeber Rudolf Augstein als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnete und inzwischen etwas angerostete mediale Schlachtschiff „Der Spiegel“ lässt bemerkenswerte Einsichten aufblitzen. Die Online-Ausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins legt sich in einem Kommentar angesichts der bundesweit aufgeflammten Diskussion um Vergesellschaftung und Kollektierung mit einem starken Plädoyer für die Kooperationswirtschaft und die Genossenschaftsbewegung ins Zeug.
Per Essay relativiert Nils Minkmar die Rolle des Geldes und des Kapitalismus in ungewohnter Klarheit. Es gebe doch wesentliche Bereiche des Lebens, in denen Geld aus guten Gründen keine dominierende Rolle spielen soll. Liebe und Gesundheit seien dazu zu zählen. Es wäre doch befremdlich, wenn sich ein Arzt über die Krebsdiagnose eines Patienten freut, weil die Behandlung ihm etwas einbringt. Auch mag wohl keiner morgens in der Küche einen Chart entdecken, auf dem die Familie täglich den persönlichen Marktwert verzeichnet. Dennoch sei der digitale Kapitalismus ideologisch entgrenzt und behauptet, der Weisheit und der Geschichte letzter Schluss zu sein.
Um solchen trüben Aussichten zu entgehen, empfielt der Autor eindringlich und wörtlich: „Zum Schutz der natürlichen Lebensbedingungen und für eine humanistische Ausgestaltung des Kapitalismus sollten wir uns auf andere Traditionen besinnen, die sich in einem liberalen Bereich zwischen staatlicher Bevormundung und privater Willkür entwickelt haben, etwa die der Genossenschaften und der dem Gemeinwohl verpflichteten Stiftungen.“ Als Beispiel wird zu einem Blick nach Frankreich geraten.
In Paris habe sich ein Supermarkt ganz anders organisiert. Der Biomarkt „La Louve“ gehöre seinen Kunden. wer sich dort engagiert und mitarbeitet, kaufe billiger ein und bestimme darüber mit, was in die Regale kommt.
Schon ewig diskutiere der Präsident mit den großen französischen Supermarktketten, um das Leben in Frankreich wieder bezahlbar zu machen – aber ohne Erfolg. Frankreich sei nach wie vor zu teuer für die Franzosen. Initiativen wie dieser private und genossenschaftliche Markt seien die „findige Antwort auf die Krise einer wild gewordenen Ideologie“. Neben der politischen Aktion, ökologisch und sozial zu wirtschaften, sorge der so organisierte Supermarkt für ein billiges Warenangebot und bekämpfe darüber hinaus ein anderes fundamentales Übel des postmodernen Kapitalismus – die Einsamkeit jener, die an der Gesellschaft weder über Arbeit noch Konsum partizipieren. Bei „La Louve“ handele es sich um die Neuerfindung des Bürgers zwischen Supermarktregalen. Es gehe auch im bundesdeutschen Staat und seinem Grundgesetz nicht darum, möglichst viele Menschen zu Milliardären zu machen oder eine hohe Wachstumsquote zu erzielen, sondern um den Schutz der Menschenwürde.
„La Louve“ ist ein kooperativer und partizipativer Supermarkt, der im Herbst 2016 in Paris eröffnet wurde. Für dieses erste Geschäft seiner Art in Europa stand Park Slope Food Coop aus den USA Pate. Dieses ursprüngliche Modell gibt es seit den 70er Jahren im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Er wird von 16.000 Mitgliedern getragen. Sie sind gleichzeitig Kunden und freiwillige Helfer. Der Pariser Ableger wurde von zwei in der französischen Hauptstadt lebenden Amerikanern initiiert. Dazu wurde 2011 der Verein „Les Ami de la Louve“ gegründet, um den Betrieb vorzubereiten. Anfang 2017 zählte La Louve mehr als 3.000 Genossenschaftsmitglieder. Um dort hochwertige und oft umweltfreundliche Lebensmittel zu niedrigen Preisen einkaufen zu können, muss jeder dort freiwillig drei Stunden im Monat arbeiten. Beim Eintritt in die Kooperative hat sich jedes Mitglied mit bis zu 100 Euro am Genossenschaftskapital zu beteiligen. Für sozial Schwache beträgt dieser Anteil zehn Euro.
Demnächst sollen weitere ähnliche Projekte in Frankreich und Belgien umgesetzt werden. Als Standorte sind vorgesehen Toulouse, Lille, Bordeaux, Clermont-Ferrand, Grenoble und Brüssel. Die beiden Mitbegründer Tom Boothe und Brian Horihan nennen ihre Projekte politische Vorhaben und vergleichen sie mit den Arbeitergenossenschaften des 19. Jahrhunderts. Das Ziel klassischer und kapitalistischer Supermärkte bestehe nur darin, unter allen Umständen Geld zu verdienen, Druck auf Produzenten auszuüben und Verbraucher zu manipulieren. Die von den beiden kreierte „kooperative pertizipative Wirtschaftsform zwischen Kapitalismus und Kommunismus“ erlaube eine Umkehr. Es seien um 15 bis 40 Prozent günstigere Preise erreichbar. ++ (me/mgn/06.05.19 – 087)
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