Ketzerische Nachlese zum Raiffeisen-Jahr Systemstreit zugunsten Schulze-Delitzschs entschieden?

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Wien/Bolzano, 31. Dezember 2018 (geno). Das Gedenkjahr zum 200. Geburtstag des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen endet am Montag. Was hat es gebracht ? Viele Lobeshymnen, Festveranstaltungen und sogar – in Deutschland – die Schirmherrschaft des Bundespräsidenten.

Die allgemeinen Schwächen deutscher Erinnerungskultur traten erneut deutlich zutage. Kritisches, Nachdenkliches oder gar Zukunftsweisendes war kaum zu vernehmen.
Das allerdings bot ein Österreicher, der Mitte November in einer beachtenswerten Ansprache vor Genossenschaftern der Alpenländer in Bolzano solche Töne anschlug. Zunächst befürchtete der Verbandsgeschäftsführer des Raiffeisen-Revisionsverbandes Niederösterreich-Wien, Johannes Leitner, mit seinen Ausführungen zu spät dran zu sein, weil das Jubiläum zuvor schon landauf-landab ausgiebig gefeiert worden sei. „Wenn ich dieses Thema nun noch einmal aufnehme, ist das womöglich mit dem Aufwärmen einer an sich guten Speise vergleichbar, an der man sich nur leider bereits abgegessen hat.“ Ein wenig ratlos fügte er hinzu: „Was also tun, wenn der Christbaum bereits abgeräumt ist, wie wir zu sagen pflegen, die Nadeln dürr geworden sind und es auf keinen Fall ratsam sein kann, die Kerzen doch noch einmal anzuzünden. Wahre Brandstifter würden vielleicht den ganzen dürren Christbaum im Garten abfackeln.“ Und das tat Leitner dann auch tatsächlich und zündete ein Feuerwerk spritziger Gedanken, die dem altehrwürdigen Genossenschaftswesen durchaus neue Flügel verleihen und Impulse geben könnten. Zunächst mutete er den Zuhörern die „vielleicht als ketzerisch empfundene These zu, dass vieles von dem, was in diesem Jahr als Erbe von F. W. Raiffeisen postuliert wurde, ehrlich betrachtet für die Raiffeisenbewegung schon lange nicht mehr im Zentrum steht und Schulze-Delitzsch den Systemstreit – nach Punkten – gewonnen hat“. Es gebe sie zwar noch – und auch wieder neu – die kleinen, überschaubaren Genossenschaften, wo jeder jeden kennt, die auf das ‚Kirchspiel‘ beschränkt sind und denen es nicht nur um den wirtschaftlichen Erfolg geht, sondern ganz entscheidend um das solidarische Miteinander. „Aber Hand aufs Herz: Die Musik spielt in vielen Raiffeisenorganisationen schon lange bei den Groß-Genossenschaften.“ Manche von ihnen bemühten sich redlich trotz ihrer Größe nach den Ideen Raiffeisens zu leben, was allerdings nicht einfach sei. Andere gäben zumindest durch die Blume zu erkennen, dass sie eigentlich ohnehin lieber in AG’s umwandeln würden.

Leitner erlaubte sich einen Diskurs durch die geistigen Hintergründe genossenschaftlicher Tätigkeit. „Heute wissen wir durch leidvolle Erfahrung – sowohl aus der Mikrosicht des einzelnen Unternehmens wie auch aus der Makrosicht ganzer Volkswirtschaften – wie problematisch es sein kann, Unternehmen ohne solide ethische Grundausrichtungen zu führen.“ Dennoch sei zu fragen, ob nicht vieles, was dazu heute versucht wird, mehr als Placebo zur allgemeinen Beruhigung dient, aber ohne Tiefenwirkung bleibt. Eventuell handele es sich um Werte-Statements als Plakette, die künstlich aufgesetzt ist, deren tiefe Verwurzelung in der Unternehmenskultur aber ausbleibt. Heutzutage tue man sich mit einer solchen Verquickung von Ökonomie und Religion denkbar schwer, weil die moderne Welt – anders als Raiffeisen – zutiefst von der Idee geprägt ist, die Dinge auseinanderzuhalten. Hier der säkulare Staat, die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und dort – mehr oder weniger vollständig getrennt – der Glaube und die Religion als Privatsache. Die Geschichte zeige, dass Genossenschaften durchaus ohne ausdrückliche christliche Ausrichtung erfolgreich geführt werden können. Für Raiffeisen wäre das undenkbar  gewesen. Das bleibe – damals wie heute – ein heißes Eisen.  Die Frage  nach dem Menschenbild Raiffeisens erhelle sich an der in seinen Schriften unübersehbaren Forderung, dass die Menschen von Angesicht zu Angesicht interagieren müssten. Darin bestehe das Regionalitätsprinzip. Auch er habe gewusst, wie sehr sich die Beziehung der Menschen untereinander durch Entfernung verdünnt und qualitativ leidet. „In Zeiten der globalen elektronischen Kommunikation erleben wir, welchen dramatischen Unterschied es macht, ob Menschen einander kennen und sich physisch begegnen oder nicht. Heute wissen wir, dass menschliche Begegnungen neurobiologische Resonanzen auslösen, die wiederum für den Verlauf einer Begegnung von entscheidender Bedeutung sind,“ betont der Verbandsgeschäftsführer.

„Freiheit war für F. W. Raiffeisen ein zentrales Momentum“, bekräftigt Leitner. Einmischung und Bevormundung stünden dem entgegen. „Die ‚Freien Genossenschaften‘ wurden zu seinem Bekenntnis und er kämpfte leidenschaftlich gegen jegliche Zwangskollektivierung.“ Historisch habe sich schließlich an den vielen Negativbeispielen wie in Russland und der DDR, aber auch bereits in der Zwangsverwaltung der Genossenschaften im sogenannten 3. Reich – klar gezeigt, wie schlecht Zwangsgenossenschaften funktionieren und wie bedeutsam die Freiheit für nachhaltig erfolgreiche Genossenschaften ist.

Die Abschlussfrage lautet: Könnte ein im Jahr 2018 wiederkehrender Raiffeisen mit ungeteilter Genugtung auf sein Werk blicken und einfach die Hände in den Schoß legen ? Sicherlich nicht, denn er würde wohl auch in den heutigen Raiffeisenorganisationen unendlich viele Ansatzpunkte dafür entdecken, in seinem Geiste neu anzupacken, antwortet Leitner selbst. ++ (fr/mgn/31.12.18 – 250)

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