Berlin, 11. Juni 2018 (geno). Der systematisch und langfristig genossenschaftlich orientierte Agrarsektor Osteuropas erlebte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach dem Kalten Krieg eine sehr unterschiedliche Entwicklung. In einem ausführlichen historischen Rückblick stellt Gerd Bedszent am Montag in der Tageszeitung „junge Welt“ die Unterschiede zwischen den einzelnen, ehemaligen sozialistischen Staaten dar. „Das sowjetische Modell der Einführung einer weitgehend industriellen Agrarproduktion auf großen Flächen wurde nach 1945 von den meisten osteuropäischen Staaten – auch von der 1949 gegründeten DDR – kopiert. Auf eine Aufteilung der großen Landgüter unter Landarbeitern, Klein- und Mittelbauern folgte ein Zusammenschluss zu Agrargenossenschaften und die Zusammenlegung von Kleinparzellen. Die weitere Entwicklung verlief in den betreffenden Ländern allerdings unterschiedlich. In der Sowjetunion wurde der Konzentrationsprozess ständig vorangetrieben, kleinere Genossenschaften gedrängt, sich zu größeren Komplexen zusammenzuschließen. Gleichzeitig wuchs der Staatsbesitz an Agrarflächen permanent und überstieg schließlich den genossenschaftlichen Anteil.“ Eine ähnliche Entwicklung habe auch in Bulgarien stattgefunden. In Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei dominierte bis 1989 der genossenschaftliche Anteil der Agrarwirtschaft. Es sei jedoch auch dort zu größeren Zusammenschlüssen kleinerer Genossenschaften zu größeren Agrarkomplexen gekommen. In Polen habe der Prozess der Fusion privater Kleinparzellen zu Genossenschaften von Anfang an gestockt. Fast die gesamte polnische Landwirtschaft sei bis 1990 immer durch winzige Familienunternehmen repräsentiert worden.
Im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten wird die Transformation des DDR-Agrarsektors in den Kapitalismus von Wirtschaftsexperten als „durchaus gelungen“ eingeschätzt. Das ist nach Meinung von Bedszent nach 1990 andernorts nicht der Fall. In Rumänien habe eine überstürzte Reprivatisierung der Genossenschaftsbetriebe zu einem teilweisen Zusammenbruch der Agrarproduktion geführt. In Ungarn folgte den zerschlagenen Genossenschaftsbetrieben der Ausverkauf von Grund und Boden an westliche Agrarkonzerne. Bulgariens erste nach 1990 gewählte Regierung verfügte eine zwangsweise Auflösung der Genossenschaftsunternehmen. Starke Proteste der betroffenen Bauern waren die Folge. Polen erlebte ein Massensterben kleinbäuerlicher Betriebe und den Ausverkauf des Bodens. „In der Ukraine, wo die in der sowjetischen Ära geschaffenen Agrarstrukturen anfangs noch Bestand hatten, musste sich nach einem auf die Tätigkeit einer bundesdeutschen Beratergruppe zurückgehenden Präsidialerlass aus dem Jahr 2000 die übergroße Mehrzahl der noch bestehenden Genossenschaftsbetriebe auflösen“, schreibt der Autor. Nach seiner Auffassung hat auch bei der marktwirtschaftlichen Transformation in Ostdeutschland die Vernunft eher nicht gesiegt. Die Folgen seien gravierend gewesen. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) hätten neben der ökonomischen auch soziale und kulturpolitische Funktionen gehabt. Sie betrieben Berufsschulen, Kindergärten, Erholungsheime, Medizin-Zentren, Kulturhäuser und warteten Straßen und Kläranlagen. Das verschwand. In den ostdeutschen Agrarregionen verfiel nach 1990 die Infrastruktur. ++ (ar/mgn/11.06.18 – 113)
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